Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

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Untersuchungsdesign, Forschungsmethode

Untersuchungsdesign und Forschungsmethode

Untersuchungsdesign

Abb. 2: Erhebungsplan der Studie

Abb. 2: Erhebungsplan der Studie

Abb. 2: Erhebungsplan der Studie

Das Projekt soll als qualitativer Längsschnitt über einen Gesamtzeitraum von 6 Jahren anhand einer kleinen Stichprobe den Zusammenhang von Schulkarriere, Schülerbiographie und schulischer Selektion explorativ herausarbeiten und Muster dieses Zusammenspiels ausdifferenzieren. Wir starteten unser Projekt mit Schülerinnen und Schülern zum Ende der 4. Klasse in der Grundschule unmittelbar zu der Zeit, zu der der Übergang in die weiterführenden Schulen in der 5. Klasse entschieden worden ist. Diese Schüler sollen dann bis zum 9. Schuljahr weiter begleitet werden. Der Zeitpunkt des Endes der 4. Klasse als Einstieg in den qualitativen Längsschnitt wurde von uns gewählt, um diese herausragende Selektionsschleuse der Schullaufbahn mit einbeziehen zu können - und zwar bereits bevor der Übergang vollzogen worden ist. Bis zum 9. Schuljahr interessiert für die einbezogenen Schüler, wie sich der Zusammenhang von schulischer Selektion, Schullaufbahn und biographischen Orientierungen ausgestaltet und welche Prozessmuster dieses Zusammenhangs sich über den Verlauf herausarbeiten lassen. Unser Längsschnitt sieht dazu vom Ende des 4. Schuljahres bis zum 9. Schuljahr eine Reihe von festen Erhebungszeitpunkten vor, die sich - wie vor und nach dem Übergang in die 5. Klasse - auf bereits bekannte, bedeutsame Selektionsschleusen der Schullaufbahn beziehen. Zwischen diesen festen Erhebungen ergeben sich teilweise längere Zwischenräume, die wir als flexible Erhebungsphasen dann nutzen wollen, wenn sich für den jeweiligen Fall bedeutsame Entwicklungen andeuten. Die Erhebungen erfolgen alle in Form von offenen, thematisch fokussierten Interviews, die sich jeweils auf ein aktuelles Selektionsereignis und die dazu vorliegenden biographischen Orientierungen des Schülers beziehen. Zum Ende unserer Längsschnittstudie wollen wir zusätzlich ein autobiographisch-narratives Interview führen, um auf diesem Weg auch die biographische Gesamtgestalt einbeziehen zu können.

Fallauswahl

Abb. 3: Sampleschneidung über die Segmente des Bildungssystems

Abb. 3: Sampleschneidung über die Segmente des Bildungssystems

Abb. 3: Sampleschneidung über die Segmente des Bildungssystems

Der Schwerpunkt der Bestimmung des Fallsamples lag darin, eine möglichst breite Varianz einzubeziehen, um über verschiedene Ebenen maximal kontrastierende Fälle und möglichst heterogene Muster der wechselseitigen Verwobenheit von schulischer Selektion und biographischen Orientierungen in den Blick zu bekommen. Dazu haben wir fünf kontrastierende weiterführende Schulen ausgewählt, die sich nach ihrem Selektionsgrad und in ihren Einzugsmilieus deutlich unterscheiden und darüber stark differierende Schulaufbahnen und unterschiedliche biografische Orientierungen erwarten lassen. Folgende Schulen wurden ausgewählt:

  • eine Hauptschule in einem sozialstrukturschwachen Einzugsgebiet mit hohem Migrantenanteil, die in direkter Konkurrenz mit benachbarten Real- und Gesamtschulen, besonders zugespitzt zu einer "Restschule" wird, in der sich Schulkarrieren "sammeln", die bereits durch frühe und mehrfache Versagenserfahrungen gekennzeichnet sind; - ein großstädtisches, renomiertes und traditionsreiches (Elite-) Gymnasium mit hohem Leistungsanspruch und (kultur-) kapitalstarken Herkunftsfamilien der Schüler;
  • ein im gleichen großstädtischen Raum angesiedeltes Gymnasium, dass im Unterschied zum ersten eine eher gemischte Schülerschaft aufweist und weniger leistungsorientiert ist;
  • eine Sekundarschule im großstädtischen Raum, die in ihrem Einzugsgebiet und ihrer Problembelastung der Hauptschule ähnelt und
  • eine (reformorientierte) integrierte Gesamtschule, die Aufstiegsmöglichkeiten enthält, relativ bruchlose Schulkarrieren zulässt und ein "Auffangbecken" für abgestiegene Gymnasiasten darstellt.

Mit dem Einbezug unterschiedlicher Schulen im gleichen großstädtischen Raum, eröffnet sich die Möglichkeit, in den Blick zu bekommen, wie die Kinder in Bezug auf ihre individuellen Orientierungsrahmen hinsichtlich der Schullandschaft ihrer Region verschiedene Schulen wahrnehmen und gegeneinander abwägen, aber auch, was eventuelle Schulwechsel im Verlauf der Schullaufbahn jeweils individuell bedeuten. Das Gesamtsample der einbezogenen Schülerinnen und Schüler beträgt 70 Fälle. Dabei wurde darauf geachtet, dass für jede der genannten Schulen wieder ein breites Spektrum hinsichtlich schulischer Leistungen und Aspirationen sowie hinsichtlich der familialen und biographischen Hintergründe einbezogen wird. Zudem sollte besonders an den maximal kontrastierenden Schulen der Hauptschule und des Elitegymnasiums eine angemessene Fallzahl vorhanden sein.

Forschungsmethode

Die Auswertung dieser Interviews erfolgt mit der dokumentarischen Methode der Interpretation, die von Bohnsack in Weiterführung der Arbeiten von Karl Mannheim und in Bezug auf Pierre Bourdieu entwickelt wurden ist (vgl. Bohnsack 1989, 1997, 1998). Diese Interpretationsmethode fragt nach den impliziten Wissensbeständen, die als Orientierungsrahmen die Orientierungen, Deutungen und die Handlungsweise eines Akteurs bestimmen. Ursprünglich ist diese Interpretationsmethode v. a. für die Herausarbeitung kollektiver Orientierungsrahmen an Gruppendiskussionen genutzt worden. Neuerdings wird aber auch verstärkt über die Anwendung der dokumentarischen Methode an biographischen Interviews nachgedacht (vgl. Nohl 2006). Allerdings gehen die Vertreter dieser Methode in der BRD noch nicht soweit, dass sie auch von einem individuellen Orientierungsrahmen sprechen würden, der mit dieser Methode zu rekonstruieren wäre.

Wir haben uns für die Anwendung dieser Methode unter genau der Maxime entschieden, dass auch auf der Ebene der individuellen, biographischen Entwicklungsgeschichte ein individueller bzw. biographischer Orientierungsrahmen vorliegt und zu rekonstruieren ist. Dieser biographische Orientierungsrahmen dokumentiert sich in den Darstellungsaktivitäten der interviewten Schüler v. a. darin, in welchem Rahmen ein Thema von ihnen abgehandelt wird.

Die Anwendung der Methode erfolgt in einer bestimmten Schrittfolge. Zunächst wird für das ausgewählte und transkribierte Interview die thematische Struktur festgehalten und dabei im thematischen Verlauf zwischen Ober- und Unterthemen unterschieden. Dann erfolgt auf der Grundlage dieses thematischen Verlaufes eine Auswahl von etwa 3-4 einzelnen Textstellen, die entweder inhaltlich unseren Forschungsfragen sehr nahe kommen oder die besonders dichte Passagen im Interviewverlauf darstellen. Für die Interviews zum ersten Erhebungszeitpunkt zum Ende der 4. Klasse war z. B. eine dieser ausgewählten Stellen jeweils die Passage, in der die Schülerinnen und Schüler darüber berichtet haben, wie die Entscheidung für eine weiterführende Schule aus ihrer Sicht zustande gekommen ist. Für diese ausgewählten Interviewpassagen wird dann eine "formulierende Interpretation" durchgeführt. In dieser geht es einerseits um eine sequenzielle Feinstrukturierung des Textes. Andererseits dient dieser Schritt der Vergegenwärtigung des jeweils Gesagten innerhalb der subjektiven Perspektive des Schülers. Danach folgt der Schritt der "reflektierenden Interpretation". Hier geht es dann darum, hinter den intentionalen Sinn der Äußerungen danach zu fragen, was sich in dem Thematisierten und der Art und Weise der Thematisierung dokumentiert. Über die Frage nach (möglichst empirischen) Vergleichshorizonten und der Kennzeichnung von positiven und negativen Gegenhorizonten sowie den Enaktierungspotentialen im Interviewmaterial wird somit Schritt für Schritt der Orientierungsrahmen herausgearbeitet, innerhalb dessen der jeweilige Schüler ein Thema abhandelt.

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